Ab jetzt werden Frauen vor Gericht entlastet!
Trotz hoher Fallzahlen werden nur wenige Täter für Partnerschaftsgewalt verurteilt. Das hängt auch damit zusammen, dass betroffene Frauen nur selten vor Gericht aussagen. Woran liegt das und wie kann eine Strafverfolgung dennoch stattfinden?
Trotz hoher Fallzahlen werden nur wenige Täter[1] für Partnerschaftsgewalt verurteilt. Das hängt auch damit zusammen, dass betroffene Frauen nur selten vor Gericht aussagen. Woran liegt das und wie kann eine Strafverfolgung dennoch stattfinden?
Häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt ist in Deutschland weit verbreitet. Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Die Tötung ist dabei der Endpunkt einer Eskalationsspirale, die sich oft über eine lange Zeit und für Außenstehende häufig erstmal unbemerkt aufbaut. Nach einem harmonischen Start und großen Gefühlen in der Anfangszeit verändert sich die Beziehung langsam. Häufig beginnt es mit beiläufiger verbaler und psychischer Gewalt. Erst im Laufe der Zeit werden Täter handgreiflich. Ein Ende der Gewalt wird durch Täterstrategien verhindert. Dazu gehören wiederkehrende Entschuldigungen und Ausreden für die Gewalt, wie Alkoholkonsum, Eifersucht, Angst oder Fürsorge. Täter übertragen die Verantwortung für die Gewalt an die Betroffenen, indem sie ihnen Provokation oder Fehlverhalten vorwerfen. Häufig gibt es starke emotionale, ökonomische und familiäre Abhängigkeiten zwischen Verletzten und Täter, die eine tatsächlich durchgesetzte Trennung und ein Ende der Gewalt verhindern.
Die Angst davor, den Täter zu provozieren oder ihm mit einer Verurteilung ernsthaft zu schaden, lässt die meisten Frauen vor einer Strafverfolgung zurückschrecken. Wenn sie sich doch zu einer Anzeige entscheiden, vergeht häufig viel Zeit bis zum eigentlichen Prozess vor Gericht. Dieser Zeitraum wird oft von Tätern genutzt, die Verletzten unter Druck zu setzen, die Anzeige zurückzuziehen oder nicht auszusagen. Da es in Fällen von Partnerschaftsgewalt meist keine weiteren Zeug*innen gibt, hängt der Prozessverlauf in den meisten Fällen komplett von dieser Aussagebereitschaft der Verletzten ab.
Eine gute Beschreibung dieser Dynamiken aus Sicht einer Rechtsanwältin hat Christina Clemm für ZEIT online verfasst. Den Artikel finden Sie hier.
Die Istanbul-Konvention sieht vor, dass Strafverfolgung und Ermittlungen im Fall von Partnerschaftsgewalt mit großer Sorgfalt und hoher Priorität durchgeführt werden. Damit die Strafverfolgung nicht allein von der Aussage der betroffenen Frau im Gerichtssaal abhängt, gibt es in der deutschen Strafprozessordnung das Instrument der ermittlungsrichterlichen Vernehmung. Eine ermittlungsrichterliche Vernehmung ist die Aufnahme einer Zeug*innenaussage noch im Ermittlungsverfahren durch eine*n Ermittlungsrichter*in. Diese kann vor Gericht verwendet werden, auch wenn die Frau im späteren Prozess von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. An ihrer Stelle tritt die*der Ermittlungsrichter*in als Zeug*in auf.
Die betroffene Frau kann auch in der richterlichen Vernehmung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Erfahrungsgemäß ist aber die Wahrscheinlichkeit der Aussage mit geringem zeitlichen Abstand zur Tat deutlich höher. Bei der richterlichen Vernehmung hat der Beschuldigte ein Anwesenheitsrecht. Allerdings: Wenn der Untersuchungszweck durch die Anwesenheit des Beschuldigten gefährdet ist, indem zum Beispiel eine Einflussnahme auf die Betroffenen nahe liegt, ist auch sein Ausschluss möglich. Unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. wenn die Sicherheit der Betroffenen gefährdet ist, muss der Beschuldigte nicht einmal eine Terminnachricht bekommen.
Das Oberlandesgericht Hamburg hat in einem Beschluss mit der Istanbul-Konvention argumentiert und darauf verwiesen, dass eine ermittlungsrichterliche Vernehmung durchgeführt werden muss, wenn anzunehmen ist, dass die Aussagebereitschaft der Verletzten nicht sichergestellt ist:
OLG Hamburg, 08.03.2018 - 1 Ws 114/17
Amtlicher Leitsatz:
[…]
3. Die Ermittlungsbehörden haben eine ermittlungsrichterliche Vernehmung zum Zwecke der Beweissicherung zu beantragen, wenn sich die Beweisführung im Strafverfahren absehbar maßgeblich auf eine derzeit aussagebereite, aber zur Zeugnisverweigerung berechtigte Auskunftsperson stützen wird und die der Sachaufklärungspflicht unterstehende Tat nicht nur unerhebliche Bedeutung aufweist.
[…]
Gerade in Ermittlungsverfahren, die häusliche Gewalt zum Gegenstand haben, kann auch eingedenk des Art. 49 Abs. 2 der Istanbul-Konvention fortan auf eine ermittlungsrichterliche Beweissicherung grundsätzlich nicht mehr verzichtet werden. Bleibt in solchen Fällen wegen einer später das Zeugnis verweigernden Auskunftsperson - was dem Senat aus zahlreichen Verfahren bekannt ist (vgl. etwa Senatsbeschl. v. 6. Mai 2016 – 1 Ws 64/16) - eine umfassende Tataufklärung oder eine gerichtliche Verurteilung als Reaktion auf eine Gewalttat und damit eine sichtbare staatliche Reaktion aus, ist dies geeignet, das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Rechtstaates tiefgreifend zu erschüttern.
Den kompletten Fall und Beschlusstext finden Sie hier.
In Schleswig-Holstein ist das Urteil mittlerweile bekannt und Anlass, das Instrument der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen öfter einzusetzen. Trotz des vermehrten Zeitaufwands für die Richter*innen überwiegt die Hoffnung, so gewaltbetroffene Frauen im Prozessverlauf deutlich entlasten zu können.
[1] Im juristischen Sinne müsste es „mutmaßliche Täter“ heißen, da noch keine Verurteilung erfolgt ist.