Ab jetzt geht Gewaltschutz vor Wohnsitzregelungen

Für gewaltbetroffene Frauen, die keinen deutschen Pass haben, sind Trennungshürden oft besonders hoch. Mit einem Leitfaden für die Zuwanderungsbehörden hat Schleswig-Holstein den Gewaltschutz für diese Frauen gestärkt.

Sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen, fällt den meisten Betroffenen schwer. Viele haben Angst vor einer Eskalation, Sorge um gemeinsame Kinder und die eigene Existenz.

Für Frauen, die keinen deutschen Pass haben, kommen weitere Trennungshürden hinzu. Bei ihnen kann es um den Aufenthaltsstatus in Deutschland gehen, der bei einer Trennung vor Ablauf der Ehebestandszeit in Gefahr wäre. Andere Frauen müssen Angst haben, vor der Gewalt nicht in ein Frauenhaus fliehen und an einen sicheren Ort ziehen zu können, weil sie einer Wohnsitzregelung unterliegen.

Über beide Hürden haben sich das schleswig-holsteinische Innenministerium, das Büro des Beauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen und die Frauenfacheinrichtungen Gedanken gemacht und eine praktikable Lösung gefunden: Ein Leitfaden zum Umgang mit Gewaltschutzfällen in den Zuwanderungsbehörden (ZBHen) Schleswig-Holsteins.

Der Leitfaden für die Mitarbeitenden in der schleswig-holsteinischen Zuwanderungsverwaltung zu dem Thema: „Die Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Frauen mit Flucht- oder Migrationshintergrund im Rahmen von räumlichen Beschränkungen und Wohnsitzregelungen sowie der Erteilung eines eigenständigen, ehegattenunabhängigen Aufenthaltsrechts“ hat Erlasscharakter, gilt also verbindlich und zwar seit dem 03.06.2021.

Neben einer informativen Sensibilisierung der Mitarbeitenden der ZBHen über Häusliche Gewalt, deren Dynamiken und Formen, befasst er sich mit den Rechtsbegriffen für Gewaltbetroffenheit im Asyl- und im Aufenthaltsgesetz. Im Kern stellt der Leitfaden den Gewaltschutz über die rechtlichen Einschränkungen der Frauen und entzieht somit gängigen Täterstrategien („Wenn Du Dich trennst, schickt dich die Behörde zurück in Dein Heimatland!“) die Grundlage.

Ein besonderer Fokus wird hierbei auf die Glaubhaftmachung der Gewaltbetroffenheit gelegt: Bisher war es in vielen Behörden Praxis, dass die betroffene Frau amtliche Zeugnisse vorlegen musste, um die Gewalt aktenkundig zu machen, so z. B. ärztliche Atteste oder Strafanzeigen. Der Leitfaden berücksichtigt nun, dass diese Zeugnisse nur selten von den Frauen vorgelegt werden können und erklärt die Schilderung der Frau als ausreichend für einen Glaubhaftmachung der Gewalt.

Ein Ausschnitt aus dem Leitfaden:

„Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich von Gewalt betroffene Frauen oft gefangen fühlen in einer sich steigernden Spirale aus Isolation, Einschüchterung, Bedrohung, Entschuldigungen, Versprechen, Hoffnung, Angst und erneute Eskalation. Es liegt in dieser Dynamik begründet, dass nur selten Hilfe von außen in Anspruch genommen wird. Staatliche  Institutionen wie Polizei oder Krankenhäuser werden am seltensten kontaktiert, Frauen- oder Integrationsfacheinrichtungen werden häufiger um Hilfe gebeten. Vor diesem Hintergrund ist zum bestmöglichen Schutz der betroffenen Frau in jedem Einzelfall von den zuständigen Mitarbeiter*innen der Ausländer- bzw. Zuwanderungsbehörden stets gewissenhaft zu prüfen, ob sie die Glaubhaftmachung der erlebten Gewalt primär auf die Schilderung der Frau stützen können, sekundär auf Stellungnahmen der unabhängigen Facheinrichtungen und erst dann auf Zeugnisse der staatlichen Institutionen wie Atteste und Anzeigen (S. 24 des Leitfadens).“

Damit entlastet der Leitfaden nicht nur gewaltbetroffene Frauen, sondern auch die ZBHen: Sie gewinnen mehr Sicherheit in ihren Entscheidungen und werden in ihrem Ermittlungsauftrag dahingehend gestärkt, dass ein Gesprächsvermerk als ausreichend gilt. Auch eine Bewertung wie schlimm die Gewalt war oder eine Prognose, ob es zu weiterer Gewalt kommen könnte, erklärt der Leitfaden als unerheblich für die grundsätzliche Entscheidungsfindung durch die Behörde. Weitere Hinweise auf Gewalt, wie eine Stellungnahme von Frauenfacheinrichtungen oder Zeugnisse staatlicher Institutionen können, müssen aber nicht, beigelegt werden.

Wenn die Gewalt von der Frau dargelegt worden ist, hat sie gute Chancen auf Härtefallregelungen nach

-        §§ 47(1), 49(2), 50 bzw. 51, 53, 56, 58(1) AsylG (gestattete Ausländer*innen),

-        nach § 12a(1-4) AufenthG (schutzberechtigte Ausländer*innen),

-        § 61(1 bzw. 1d) AufenthG (ausreisepflichtige Ausländer*innen) und

-        § 31(2) AufenthaltG (Ausländer*innen mit ehegattenabhängigem Status).

Der Leitfaden ist bundesweit noch einmalig und stößt in anderen Bundesländern auf Interesse. Um den Gewaltschutz insbesondere in Fällen starker Gewalt und Bedrohungslage verbessern zu können, wäre es hilfreich, wenn andere Bundesländer ähnliche Regelungen etablieren könnten. So wäre eine Flucht in Frauenhäuser außerhalb von Schleswig-Holstein mit anschließendem Umzug in sichere Orte schneller möglich. Schleswig-Holstein hat sich seinerseits im Leitfaden bereit erklärt, dem Zuzug gewaltbetroffener Frauen aus anderen Bundesländern ohne nochmalige Prüfung zuzustimmen (S. 18 des Leitfadens).

Sie sind selbst gewaltbetroffen oder begleiten eine gewaltbetroffene Frau und haben Fragen?

Sie arbeiten in einer Zuwanderungsbehörde und haben Interesse an einer Fortbildung zum Leitfaden oder inhaltliche Fragen?

Sie kommen aus einem anderen Bundesland und haben Fragen zum Leitfaden?

Melden Sie sich gern bei uns: info@lfsh.de